Das Besondere im Garten Lebensstrudel

Sonntag, November 13, 2011

Alles fing wie ein ganz normaler Auftrag an. Sie wissen schon, ein Anruf von der Redaktion einer Zeitung. Fahren sie mal da und da hin, entdecken sie das Besondere. Wie immer! Alles klar? Tja, so ein Rechercheauftrag ist immer ein Sprung in unbekannte Gewässer. Manchmal ist es wundervoll, manchmal mühsam. Doch irgendwie habe ich es bisher immer geschafft, einen Artikel zu schreiben, mit dem ich zumindest meinen Auftraggeber zufrieden gestellt habe.

Doch dieses Mal war alles anders. An einem grauen Morgen fuhr ich zu dem Gartengelände „Lebensstrudel“. Mit der Chefin hatte ich vorher telefoniert. „So, so“, hatte sie gesagt: „Sie wollen uns vorstellen, das Besondere entdecken? Na, dann kommen sie mal vorbei.“ Freundlich klang ihre Stimme, jung. Ob ich auch fotografieren wolle? Natürlich. Na, dann hoffe sie, dass es auch klappe. So, ein Quatsch! Was denkt sie sich eigentlich. Ich fotografiere seit dreißig Jahren, warum sollte es nicht klappen. Ich hätte vorgewarnt sein sollen, nicht so selbstsicher, denn schließlich fand ich kein einziges Bild im Internet von dem Gartengelände.

In den frühen Morgenstunden ging es los. Zwei Stunden fuhr ich. Gleich hinter der Stadtmauer stand eine alte Eiche. Unser Treffpunkt. Sie war schon da, lehnte sich an dem dicken Stamm des Baumes und genoss mit geschlossenen Augen die wärmenden Strahlen der aufgehenden Sonne. Ihre Stimme klang deutlich jünger, als sie es war. Sportliches Outfit! Die blaue Jeans und der kurze Pulli standen ihr gut. Das kurze Haar hatte sie einfach hinter die Ohren gesteckt und doch kräuselten einzelne Strähnen schon wieder hervor. „Guten Morgen“, begrüßte sie mich. Ihre graugrünen Augen musterten mich. „Guten Morgen“, erwiderte ich. Ohne ein weiteres Wort gab sie mir mit einem Handzeichen zu verstehen, ihr zu folgen. Es gab keinen Zaun, keinen offiziellen Eingang, niemand der Eintritt forderte. Wir wanderten über die Wiese. Das Gelände schien in einzelne Parzellen aufgeteilt. „Wenn Sie fragen haben, beantworte ich Sie ihnen gern. Sie finden aber auch Ansprechpartner in den Abteilungen“, hörte ich leise ihre Stimme. „Darf ich überall fotografieren?“ Sie zuckte die Achseln und meinte schnippisch: „Wenn sie wollen. Ich hatte Ihnen ja im Vorfeld erzählt, dass es schwierig ist, bei uns zu fotografieren.“ Klang fast schon arrogant. Ich ignorierte sie, ließ meinen Blick schweifen, machte Fotos von den vielen Menschen, die durch den Garten schlenderten. Wunderbar! Alles scharf, tolle Farben. Was sie sich denkt. Einige Menschen wanderten von Parzelle zu Parzelle, andere steuerten direkt auf ihr Ziel zu.

Als erstes erreichten wir ein Meer von Kräutern. Eine Frau im weiten Pullover arbeitete barfuß, hörte einem Mann zu, beantwortete seine Fragen. Später stellte sie ihm verschiedene Kräuter zusammen. Danach kam ein kleines Mädchen zu ihr. Mit ruhiger Gelassenheit hörte sie zu, schickte die Kleine kurzerhand weiter in einen anderen Teil des Gartens. Dann wandte sie sich mir zu. Meine Führerin stand noch immer am Eingang. Im Sonnenlicht sah es aus, als ob sie verblasse. Irritiert rieb ich mir die Augen. Die Kräuterfrau erzählte mir von gesunden Kräutern, den heute noch geltenden Lebensweisheiten Hildegard von Bingens. Einen besonderen Anhalt für meinen Artikel hatte ich schon gefunden! Innerlich rieb ich mir zufrieden die Hände.

Meine Begleitung führte mich weiter. Nebenan gab es besondere Züchtungen. Die Pflanzen hatten große Blütenblätter. Auf ihnen standen Geschichten und Gedichte. Die Menschen hier lasen sich von Blüte zu Blüte oder gingen zu der Frau am hinteren Teil des Beetes. Sie musterte die Fragenden, stellte einige Fragen und schickte sie zu den blauen, weißen, roten oder violetten Blüten. „Guten Tag, sie müssen der Reporter sein.“ Bevor sie mir die Hand entgegenstreckte, wischte sie die Erde achtlos an ihrer Hose ab. „Guten Tag. Was tun Sie hier?“ „Wir sammeln Literatur. Die Menschen suchen bestimmte Autoren, Geschichten oder lassen sich welche vorschlagen. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“ Während sie mir erklärte, dass auf den roten Blüten Liebes- und auf den blauen Phantasiegeschichten stehen, war es wieder so, als wenn meine Begleitung fast durchsichtig wurde. Dabei stand sie dieses Mal gar nicht im Sonnenlicht. Doch die Artenvielfalt in diesem Teil des Gartens erforderte meine volle Aufmerksamkeit. Es ist erstaunlich, wie viele große und kleine Pflanzen mit Gedichten und Geschichten es gab. Zwei Mammutbäume beherbergten übrigens die Literatur von Goethe und Schiller. Viele Namen kannte ich gar nicht. „Was würden Sie mir raten?“ Wieder sah ich in graugrüne Augen. Ob die Farbe der Augen eine Voraussetzung für die Einstellung war? „Nein ist sie nicht.“ Bitte? Doch bevor ich weiterfragen konnte, sprach die Gartenbibliothekarin weiter: „Sie sind auf der Suche, sonst wären Sie nicht hier.“ Ich wehrte ab, erinnerte sie daran, dass ich einen Auftrag von der Zeitung habe. Sie lächelte verstehend: „Nur wenn Sie bereit sind, bekommen Sie auch die entsprechenden Aufträge. Warten Sie, ich habe etwas, was Ihnen bei ihrem Auftrag helfen könnte.“ Sie steuerte auf eine winzige Bodenpflanze zu, grub sie aus und steckte sie in einem kleinen Topf. „Die Pflanze wird noch größer, mag ein wenig Wasser und Sonnenlicht.“ Zögernd nahm ich die Pflanze. „Aber es steht nichts drauf?“ „Haben Sie ein wenig Geduld, es entwickelt sich noch. Auf Wiedersehen!“ Ohne weiter abzuwarten, ging sie wieder an ihre Arbeit.

Ich steckte die kleine Pflanze in den Fotorucksack. Bisher haben noch nie Pflanzen meine Pflege überlebt. „Es wird schon gut gehen“, machte mir meine Führerin Mut. Nicht weit von der Bibliothek, so nannte ich den Garten mit den Gedicht- und Geschichtenpflanzen, lag eine kleine Schule. Es gab kleine und große Tische, doch die meisten Lernenden lagen auf dem Boden oder lehnten an Bäumen. In kleinen Gruppen lernten sie lesen oder schrieben Geschichten, stöberten in Lexika. Hier sah ich das kleine Mädchen wieder. Es las einem anderen Jungen etwas vor. Meine Führerin blieb wie immer dezent im Hintergrund stehen. Was für eine harmonische Lernatmosphäre! Ich setzte mich auf einen kleinen Mooshocker und hörte zu. Ein kurzer, fragender Blick der „Lehrerin“, ob sie sich hier auch so nannte, wusste ich nicht, doch ich schüttelte den Kopf. Es genügte mir zu beobachten. Inzwischen hatte ich genügend Stoff für meinen Artikel gesammelt und hatte dabei noch nicht einmal alle Parzellen des Gartens entdeckt.

Nach einer Weile verließ ich die Gartenschule. Sofort war meine Führerin wieder an meiner Seite und führte mich in eine völlig chaotisch anmutende Parzelle. Nicht so gepflegt, alles wuchs durcheinander. Dieses Chaos beherrschte eine Frau in legeren Sachen und mit – richtig geraten – graugrünen Augen. Mit wirren Haaren schaute sie nur kurz auf, telefonierte, suchte nach Informationen und gab sie sofort an die Menschen, um sie herum weiter. Niemand schien das Chaos in seiner ganz eigenen Definition von Ordnung zu stören. Für mich der irritierenste Ort auf diesem ungewöhnlichen Gartengelände.

Wir gingen die ganze Zeit im Kreis, immer um eine zwei Meter hohe Hecke herum. Ich war so fasziniert, dass sie mir am Anfang gar nicht auffiel. Auch die anderen Menschen schienen sie nicht zu bemerken. Sie gingen einfach vorbei. „Was ist dahinter?“ Meine Hand strich über die kleinen blauen Blüten, welche sofort die Farbe wechselten. In leuchtendem Orange schienen sie zu wachsen. „Ein weiterer Teil des Gartens.“ Plötzlich wurde meine Führerin von hinten umarmt. Es war der erste Mensch, der uns, nein sie ansprach. „Brauchst du noch lange?“ „Nein, ich komme gleich“, flüsterte meine Führerin. Mit einem gehauchten „Ich freu mich“ steuerte die Fremde auf die Hecke zu, die sich einen Spalt öffnete und gleich wieder hinter ihr schloss. Als Journalist bin ich es gewohnt, alles genau zu beobachten. Aber was ich dahinter sah, inspirierte mich nicht. Eine Wiese mit Gänseblümchen. Fast belanglos im Vergleich zu den anderen Teilen des Gartens. Dafür die Hecke? Wieder schien meine Führerin meine Gedanken lesen zu können. „Früher gab es sie nicht. In all dem Trubel nahmen die Menschen diesen Teil des Gartens nicht wahr.“ Ihre graugrünen Augen wurden für einen kurzen Moment dunkler, bevor sie weiter sprach: „Als die Menschen immer wieder diesen Teil übersahen, wurde sie traurig. Sie sprach Menschen an, lud sie ein. Aber damit überforderte sie die Menschen.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Und sie wurde nicht nur traurig, sondern auch wütend, sonst hätte die Hecke wohl keine Dornen.“ Ein nachsichtiges Lächeln umspielte ihren Mund. „Es gibt nur wenige Menschen, die in diesen Teil des Gartens kommen. Sie kommen mit der eigenen Intensität dieser Gartenparzelle sehr gut zurecht. Manchmal öffnet die Besitzerin auch heute noch die Hecke, einen kleinen Spalt. Wer möchte, kann sie jederzeit passieren. Nur lädt sie niemanden mehr ein. Die meisten Besucher fühlen sich sowieso in den anderen Teilen unseres Gartens wohler.“ Wieder spürte ich ihren musternden Blick auf mir ruhen. Unbehaglich schüttelte ich mich und beschloss zu gehen. So wichtig war der Teil nicht, dass ich die Besitzerin der Hecke noch kennenlernen musste. Meine Führerin lächelte mich verstehend an. „Auf Wiedersehen! Sie brauchen nur den Weg geradeaus gehen. Dann sehen sie die Eiche.“ Bevor ich mich bedanken konnte, drehte sie sich zur Hecke. Die Blumen verwandelten sich wieder vom blau ins leuchtende Orange. Ohne zurückzublicken, schlüpfte sie hindurch. Die Menschen schienen weder die mehrfarbigen Blüten noch die Hecke zu bemerken. Moment mal? Ein Kälteschauer durchfuhr mich. Sollte sie die Besitzerin des Gartenteils hinter der Hecke sein? Und wenn, jetzt war sie weg.

Doch so einfach ist es nicht. Raten sie mal? Richtig! Auf keinem Foto war etwas zu sehen, alles schwarz. Dabei hatte ich im Garten mir die Fotos angesehen. Sie waren toll! Doch irgendwas passierte mit den Aufnahmen, als ich das Gelände verließ. Jetzt sitze ich hier, will wenigstens den Artikel schreiben und werde das Gefühl nicht los, das wirklich besondere in diesem Garten nicht erkannt oder verstanden zu haben. Morgen wäre Abgabetermin. Vielleicht sollte ich die Redaktion um Aufschub bitten, noch einmal hinfahren und mir zumindest ansehen, mich einlassen auf das Besondere hinter der Hecke mit den blau-orangenen Blumen. Welche Verbindung besteht zwischen den einzelnen Parzellen? Nur ein Foto, da bin ich mir sicher, werde ich auch beim zweiten Anlauf nicht bekommen. Sie wollen jetzt bestimmt wissen, wie es meiner Pflanze geht. Warten Sie einen Moment, ich schau nach. Sie lebt noch. Aber was ist das? Auf dem neuen Blatt steht ein Gedicht. So langsam, ganz langsam fange ich an zu verstehen…

Erkenntnis

Die Welt draußen eine Bühne,
Schauspielerei zum Überleben gebraucht.
Mein zu Hause – Heimat für mich -,
Zuflucht für mein inneres Ich.
Träume, Gedanken, Ideen
brauchen nicht vor anderen bestehen!
Sie sind da – in mir -,
und manchmal finde ich den Mut,
lade jemand anderen ein,
bei meinen Gedanken, Träumen, Ideen,
bei mir Gast zu sein.

Kurzgeschichte Ute Winkler November 2011

 

 

2 Comments

  1. Tj sagt:

    Wunderschön und auch so wahr…
    Dankeschön das Du uns hast teilhaben lassen..

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